Dichterärzte und Arztversteher – Patienteninnenklagen und Hoffnungsschimmer – Krankheitsfälle und Rezepte – Lehrreiches und Spottgedichte – Lyrische Medizin.Hilfreiche Utensilien ärztlicher Bemühungen waren über Jahrtausende stets: das Wort, die Pflanze, das Messer. Und doch bleibt das Heilen bekanntlich eine Kunst. In dieser von Jakob Leiner herausgegebenen Anthologie an der Schnittstelle von Lyrik und Medizin eröffnet sich ein Kaleidoskop seelisch-körperlichen Befindens: 101 Dichtende aus fünf Jahrhunderten, vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart.Lehrgedichte und Rezepte bilden weiter, während Gläubige Heilung in christlicher Lehre suchen. Es wird barock lamentiert, romantisch verklärt und anatomisch beobachtet. Die Aufklärung rückt vieles zurecht und vergisst so manches; natürlich hält die Moderne Einzug, mit ihr die große Abstraktion, die schrecklichen Kriege, das heilsam Eklektische. Und natürlich soll zu jeder Zeit der Humor als gesundheitsförderliche Ressource aufblitzen. Gleich zu Beginn sticht das Schiff der Narren in See; im Jahr 1527 wird Paracelsus mittels lyrischer Schmähschrift »geroasted«; weiter hinten kommt ein kettenrauchender Lungenfacharzt zu Wort.So stehen die hier zusammengestellten Texte für die Kunst des Heilens und Erkrankens in all ihren psychosomatischen Facetten. Ob als Bestandsaufname oder Seelenspiegel – durch Rezeption wird Lyrik selbst zur Medizin. Denn die (eigene) Sprache trägt sich selbst. Sie kann ein Kurort sein.
Ein Mann kehrt zurück in die thüringische Kleinstadt, in der er in den Sechzigern und Siebzigern aufgewachsen ist – ohne Vater (der die Familie gen Westen verlassen hatte), von Mutter und Großmutter streng erzogen. Das Geld war immer knapp, die Entbehrungen, die die Frauen während des Krieges und danach erleiden mussten, wurden dem Jungen oft deutlich vor Augen geführt.Neben starken Bildern, wie dem von der eigenbrötlerischen Elfriede, die ein dunkles Geheimnis umweht, oder der Wut, mit der er sich an die verlogenen Märchen vom Sozialismus, die Versprechungen vom Aufbau eines „besseren Deutschland“ und an die Brutalität seiner tumben NVA-Vorgesetzten erinnert, ist sein Gedächtnis voll von einem Universum an Gerüchen – DDR-Gerüchen: Bohnerwachs und Bratkartoffeln, billige Kernseife und das Scheuerpulver Ata, Räuchermännlein zu Weihnachten oder der scharfe Geruch des Mottenpulvers, den ein ausgestopfter Braunbär im Naturkundemuseum verströmte. Dazu gehören auch die Begegnungen mit Sowjetsoldaten: ihre braunen, streng riechenden Uniformen, der Rauch ihrer selbstgedrehten Zigaretten, der sich mit dem Gestank des Treibstoffs ihrer Panzer mischte. Gerüche, untrennbar mit Ordnung, Disziplin und Obrigkeitsfurcht verbunden, olfaktorische Memorabilien einer versunkenen Zeit – wenig geeignet, sie zu verklären. Andreas Montag steuert ein wendiges Boot durch das Meer der Neuerscheinungen, die sich mit dem Leben in der DDR befassen und zu ergründen suchen, „was diese merkwürdigen Ostler wirklich ausmacht. Nennen wir es Stallgeruch. Doch, das passt. Im Guten wie im Bösen.“
Der Kunsthistoriker und Volkskundler Wilhelm Fraenger (1890–1964) gewichtet in Eurydike die Rollen von Mann und Frau im Orpheus-Mythos neu. Seine Anthologie, die 1933 in bibliophiler Aufmachung erschien, präsentiert poetische Texte aus sechs Jahrhunderten, in denen Dichter den Verlust geliebter Frauen beklagen, um sie auf diese Weise unsterblich werden zu lassen. Herausgehoben und exponiert an das Ende der Anthologie gestellt wird dabei Rilkes Bearbeitung, die insofern den Beginn einer neuen Lesart des antiken Mythos markiert, als in ihr die Frau nicht mehr als Objekt männlichen Kunstschaffens erscheint, sondern als Subjekt eines eigenen. Fraenger publizierte Eurydike im Frühjahr 1933, kurz nach seiner Entlassung als Leiter der Mannheimer Schlossbibliothek. Der Gedichtreigen, der beginnend bei Dante und Petrarca über Shakespeare, Goethe und Hölderlin bis zu Rudolf Alexander Schröder führt, ist zugleich ein Bekenntnis zum Geist Europas und damit ein antifaschistisches Dokument, das die Emigrantinnen in die Reihe beweinter Frauen der europäischen Hochliteratur treten lässt.Ralf Georg Czapla und Christof Baier haben Fraengers Eurydike, versehen mit einer Einführung und einem geistesgeschichtlichen Kommentar, neu herausgegeben. Sandra Strunz beleuchtet aus theaterpraktischer Perspektive die Aktualität des Bandes.
Ein Recht von Künstlern auf Anerkennung ihrer Urheberschaft und auf Nennung ihres Namens am Kunstwerk gibt es erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit diesen Rechtsansprüchen wird einem zeitlich weit zurückreichenden Bedürfnis künstlerisch schaffender Menschen Rechnung getragen. Bereits in den ersten Handabdrücken auf den bemalten Wänden steinzeitlicher Höhlen wollten gestaltende Menschen ein Zeichen von sich hinterlassen.Signaturen und Inschriften von Künstlern erzählen von Schöpferstolz, Geltungsstreben, Konkurrenzdenken und dem Wunsch, auch für die Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. Die Künstler haben über alle sich wandelnden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen hinweg eine persönliche Beziehung zwischen ihrer Kunstfertigkeit und ihren Kunstwerken beansprucht, und diese wurde ihnen grundsätzlich auch von ihren Auftraggebern und ihrem Publikum zugebilligt, ohne dass dazu ein rechtlicher Zwang oder Druck gegeben war. Ab dem 19. Jahrhundert besiegelt die Künstlersignatur zugleich auch die Authentizität des Kunstwerks als Original in Abgrenzung zu Kopie und Fremdwerk, womit ein weiteres Themenfeld eröffnet ist.Die Leserinnen und Leser erwartet eine unterhaltsame Tour d’Horizon durch die Welt der Künstlerinschriften und Signaturen von der Antike bis in die zeitgenössische Kunst.
Der neue Roman des Annalise-Wagner-Preisträgers 2023Ein kleines Land geht unter und in einem großen auf. Eva Nielsen setzt ihre Kulturarbeit fort, als habe es das Ende ihrer Welt nie gegeben, bis eines Tages Kirsten Densow in die Stadt zurückkehrt. Sie fordert Wiedergutmachung – für Bespitzelung, Ausbootung und das Ende ihrer Karriere – von Eva Nielsen, einst Mentorin der Klagenden und inzwischen Leiterin einer angesehenen wie einflussreichen Kultur-Stiftung. An ihrer Seite wähnt Kirsten Densow den umtriebigen wie ehrgeizigen Presse-Mann Fuller mit seinem Wunsch nach Aufarbeitung jüngster Geschichte. Eva Nielsen erhält Unterstützung durch ihre Freundinnen und ihre treue Haushälterin Lieselotte, die betont, seit jeher unpolitisch gewesen zu sein. Am Ende ist es Lieselotte, die den höchsten Preis bezahlt. Und während von Kirsten Densow bis Eva Nielsen alle Protagonistinnen des Romans verlieren, gewinnt einer, mit dem niemand rechnet.Eine außergewöhnliche literarische Auseinandersetzung mit den individuellen Folgen politischer Wenden in einer poetischen Sprache, die wohltuend über dem Dunkel des Geschehens aufscheint.
Im Jahr 1804 kommt im Erzgebirge Minna Leichsenring auf die Welt – in einer Glückshaut. Dem medizinischen Phänomen wird die Kraft zugesprochen, ein glückerfülltes Leben zu garantieren. Doch es ist keine glückliche Fügung, dass Minna von ihrer Mutter im Wald ausgesetzt wird. Dort trifft sie auf sieben Bergknaben, mit deren letztem sie später einen Sohn zeugt. Dieser, Johannes geheißen, wird Henkersknecht und verschwindet aus dem Leben seiner Mutter. Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn, ihrem ganzen Glück, wird Minna auf ungewöhnliche Proben gestellt.Die Geschichte spinnt sich fort: vom wohlhabenden Johannes, der in Chemnitz eine prächtige Villa bewohnt, über seine Nachkommen, die 1940 in der als Tötungsanstalt missbrauchten „Pflege- und Heilanstalt Sonnenstein“ in Pirna Dienst tun, bis hin zu Helma, die am Beginn des 21. Jahrhunderts die verfallene Villa Leichsenring erbt. Deren Teenager-Tochter Elise verweigert sich schließlich wie ihre Vorfahrin Minna der vermeintlichen Normalität ...Mit großer Fabulierlust entwickelt Kerstin Hensel eine Geschichte, in der Traumsequenzen, Zeitsprünge und (Ab)brüche die Grenzen zwischen Realität und Imagination auflösen. Reale historische Ereignisse mischen sich mit Anklängen an die Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen, Bergmannssagen und fantastischen Begebenheiten, die an E.T.A. Hoffmann erinnern.
»… vor der Schwelle des Glücks …«
Franz Kafka an Hugo Bergmann, Müritz , Juli 1923.Die Wochen im Ostseebad Müritz im Juli und August 1923
haben das Leben von Franz Kafka verändert. Hier traf er Dora
Diamant, seine letzte Liebe. Mit ihr wohnte er in Berlin, bis
seine Krankheit ihn zwang, die Stadt zu verlassen. Im Juni
1924 starb er. Sein letztes Jahr sei das glücklichste gewesen,
schrieb später der Freund Max Brod. Es begann an der Ostsee,
umgeben von singenden jüdischen Kindern aus Berlin. Trotz
politischer Verwerfungen, Inflation und Gewalt war es für
Franz Kafka und Dora Diamant ein Sommer der Liebe und
des Glücks.Das Buch liefert nicht nur neue Facetten zur Biografie
Franz Kafkas und Dora Diamants, es ist auch eine Hommage
an Graal-Müritz, eines der schönsten deutschen Ostseebäder.
Illustriert mit vielen, zum großen Teil bislang unveröffentlichten
historischen Abbildungen, kommen auch aktuelle Fotografien
von Günter Karl Bose zur Geltung.
Jan Schneider ist Historiker und Archivar. Er ist verheiratet,
hat zwei Kinder und lebt in einem Dorf am Stadtrand. Jan
hat etwas vor sich, von dem niemand etwas weiß: Er muss
die Akten des Auswärtigen Amtes des Jahres 1991 bearbeiten
– das Jahr, das sein Leben als Zehnjähriger von Grund auf
verändert hat. Er kann plötzlich nicht mehr auf Geschichte
blicken, ohne seine eigene darin zu sehen. Dann trifft der zögerliche
Jan auf Enni van der Bilt, Notrufdisponentin einer
Feuerwehr-Leitstelle. Enni ist das Gegenteil von Jan: Sie packt
an, will Dinge verändern. Sein Zögern ist ihr fremd. Doch
vom ersten Moment an haben die beiden eine Verbindung,
ohne dass sie zunächst sagen können, worin diese besteht …»Wenn eine Feuerwehrfrau auf einen Archivar trifft,
kann es wie in diesem Roman passieren, dass die Eiszeit
Feuer fängt und namenlose Inseln die Zeit anhalten.«
Annett Gröschner»In Michaela Maria Müllers Text findet sich Gegenwart
und Historie, Geschichte und Naturgeschichte, Privates
und Gesellschaftliches kunstvoll zu einem Gobelin
verknüpft, einem Zeitteppich, der zugleich das Handlungsfeld
der Figuren ist.« Jan Kuhlbrodt»Alles ist jetzt. Der Zufall führt Regie, als Jan und Enni sich treffen, Entscheidungen sind es, die sie auf neue Lebensbahnen führen. Zonen der Zeit ist eine sensible Meditation über die Zeit und eine große Ermutigung, sein eigenes Jetzt im Leben zu finden.«Katrin Lange, Literaturhaus München
Im März 1965 begegneten sich die Schriftstellerin Brigitte
Reimann und der Schriftsteller Günter de Bruyn zum ersten
Mal. In Reimanns Tagebuch findet sich dazu die Notiz:
»Lernte Günter de Bruyn kennen, der mir einen vorzüglichen
Eindruck machte.« Wie es danach weiterging, davon war bislang
nur aus den Aufzeichnungen der Schriftstellerin zu erfahren:
Es gab zufällige wie geplante Treffen, und die beiden
schrieben sich hin und wieder Briefe.Günter de Bruyn hat weder in seinen autobiografischen
Texten noch in anderer Weise diese Bekanntschaft jemals
öffentlich erwähnt. In seinem Nachlass fanden sich jedoch
Briefe an Brigitte Reimann und sie betreffende Tagebucheintragungen
– Dokumente eines intensiven Austausches unter
Kollegen, in denen Persönliches ebenso thematisiert wurde
wie Probleme bei Verbandstreffen und Schriftstellerkongressen.
Im Zentrum aber standen die literarische Produktivität
des jeweils anderen sowie eine respektvolle Anteilnahme füreinander.Mit der Publikation werden erstmals sämtliche bislang aufgefundenen
Briefe und Postkarten zwischen Brigitte Reimann
und Günter de Bruyn veröffentlicht und von Carola Wiemers
literatur- und zeithistorisch verortet.Brigitte Reimann (1933–1973) wurde nach
kurzzeitiger Tätigkeit als Lehrerin freie Schriftstellerin.
Zunächst dem »Bitterfelder Weg«
und dem sozialistischen Realismus verpflichtet,
änderten sich ihre politische Haltung und
ihr literarischer Anspruch. Ihr wichtigstes
Werk ist das postum 1974 veröffentlichte Romanfragment
Franziska Linkerhand. Große
Publikumsresonanz erzielte die Veröffentlichung
ihrer Tagebücher.Günter de Bruyn (1926–2020) war nach
Tätigkeit als Bibliothekar und Wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Zentralinstitut für Bibliothekswesen
der DDR seit 1961 freiberuflicher
Schriftsteller. Zu seinen bedeutendsten
Werken gehören die Romane Buridans Esel
(1968) und Neue Herrlichkeit (1984) sowie
die autobiografischen Bände Zwischenbilanz.
Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig
Jahre. Ein Lebensbericht (1996). Postum
erschien 2021 bei S. Fischer Die neue
Undine.
Sie waren einander eng verbunden: die Bodes aus Braunschweig, die auf eine lange Ahnenreihe namhafter Gelehrter zurückblicken konnten, und die Rimpaus, innovative Landwirte mit Rittergütern in der Nähe von Halberstadt. Aber auch wenn es schien, als seien die beiden von Kindesbeinen an füreinander bestimmt gewesen, hat es lange gedauert, bis der aufstrebende Kunsthistoriker Wilhelm Bode (1845–1929), der zum Generaldirektor der Berliner Museen avancieren und 1914 geadelt werden sollte, und seine Cousine Marie Rimpau (1845–1885) einander das Jawort gaben. Denn der Widerstand der Familien gegen diese Verwandtenehe war groß.Birgit Jochens gibt anhand von überwiegend bisher unveröffentlichten Briefen von Wilhelm (von) Bode und Marie Rimpau und Familienchroniken aus ihrem Umfeld einen Einblick in die Lebenswelt großbürgerlicher Milieus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wir trauern um unseren Autor und Karikaturisten Harald Kretzschmar
23. Mai 1931 - 27. Juni 2024
Über viele Jahre begleitete uns Harald Kretzschmar als Verlagsautor, als wacher Beobachter der Verlags- und Presselandschaft, immer interessiert am unabhängigen Verlegen, immer am Puls der Zeit, immer mit klugem Rat, auch mit Optimismus - und wo dieser wankte, mit scharfem Witz.
> zum Nachruf "Größen und Gernegrößen" in nd Der Tag von Hans-Dieter Schütt > zum Nachruf der Gemeinde Kleinmachnow